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Experten tappen in die Dualismus Falle…

Von einigen Fachpersonen, besonders von Philippe Wampfler, wurde das Thema der aktuellen Kampagne von Pro Juventute zwar begrüsst, die Machart indes kritisiert. Wir würden in die ‚Dualismusfalle‘ tappen oder gar bewusst den Dualismus propagieren.

Die eingebrachte Definition für „Digitalen Dualismus“ lautet folgendermassen:

„Digitaler Dualismus bezeichnet die Haltung, dass der Cyberspace oder die virtuelle Welt und die sinnlich erfassbare, reale Welt einen Gegensatz bildeten. Der Digitale Dualismus ist eine verbreitete Überzeugung, die auch die mediale Berichterstattung zu Social Media prägt, wird aber von spezialisierten Soziologinnen und Soziologen abgelehnt.[1]“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Digitaler_Dualismus)

Vorab:
Als Verantwortlicher für das Thema Medienkompetenz bei Pro Juventute sehe ich mich als ‚Brückenbauer‘ zwischen der jugendlichen Lebenswelt und derjenigen der Erwachsenen. Ähnlich wie zu meiner Zeit, als ich in der Offenen und Mobilen Jugendarbeit tätig war, ist dies eine meiner Hauptaufgaben bzw. eines meiner Ziele. Mein jetziger Fokus ist der Bereich „Medienkompetenz“ und da ist einer der Wichtigsten Übersetzungsleistungen, mit der ich konfrontiert werde, dass für Jugendliche die Onlinewelt und die Offlinewelt nicht getrennt sind und beide für sie relevant sind. Bei den Erwachsenen ist es mehr und mehr auch so, es gibt aber Unterschiede, und diese stören die Kommunikation zwischen Jugendlichen und Erwachsenen erheblich. Hier ein älterer Beitrag, den ich zu diesem Thema verfasst habe.

In der Kampagne geht es folglich darum, durch Aufklärung und Sensibilisierung den Druck für Jugendliche aus überhöhten Idealbildern, die von der Gesellschaft an die Jugendlichen herangetragen werden (ob offline, etwa durch den Leistungsdruck in Schule, Beruf oder Elternhaus, der Werbung oder online) zu reduzieren. Der Grund für den Druck liegt in den überhöhten Idealbildern; Social Media ist dabei ein Kanal, der diesen Druck verstärken kann. So haben wir auch unsere Kampagne realisiert.

Wie kommt nun aber Ph.Wampfler auf die Idee, es sei genau umgekehrt?

Zuerst scheint mir wichtig Folgendes zu unterscheiden:

die willentliche, aus Überzeugung vertretene Meinung, diese „Welten“ seien getrennt,

versus

die versehentliche Vermischung der Welten, oder das Tappen in Wortfallen, die nicht einer Überzeugung entspringen, sondern einer Unachtsamkeit, Unbewusstheit dem Thema gegenüber, oder einfach aus sprachlicher Gewohnheit.

Da Ph. Wamplers Kritik lautet, Pro Juventute würde bewusst den Digitalen Dualismus verbreiten, möchte ich die Gelegenheit wahrnehmen, diese Kritik ihrerseits kritisch zu beleuchten:

Schauen wir uns die einzelnen Elemente der Kampagne genauer an:

Die Plakate;
Auf dem ganzen Bild lassen sich keine Anzeichen oder Anspielungen zu einer Social-Media-Applikation finden. Die Jugendlichen schauen traurig, sie halten eine Art Schablone als Idealbild vor sich.

Zu lesen ist der Text: „Viele Ideale haben mit dem echten Leben nichts zu tun; das kann zu psychischem Druck und Krisen führen.“ Dann folgt der Hinweis auf die Notrufnummer 147 für Betroffene.

Auch hier gibt es kein Hinweis auf Soziale Medien, geschweige denn eine Unterscheidung im Sinne der „Dualisierung“.

Zu lesen ist da „echtes Leben“. Wer mit Eltern oder Fachpersonen über Neue Medien und Medienerziehung redet, weiss schon, was da in der Regel kommt, wenn jemand von „echtem Leben“ oder „echtem Kontakt“ oder „echten Freunden“ anfängt. So geht es uns auch. Kann es sein, dass der Experte hier aus einem Art Reflex in seine eigene „Dualismus-Falle“ tappt?

Der Clip

Gleich verhält es mit dem Kampagnen-Clip: kein Hinweis auf Social Media, kein verstecktes „Daumenhoch“-Symbol, das auf eine Vermischung oder Wertung von on und off hinweisen könnte. Der gesprochene Text ist derselbe wie auf dem Plakat.

Die Texte auf der Kampagnenseite:
Hier kommen nach dem Claim, den wir schon bei dem Plakat und den Filmen gesehen haben, ein ein wenig ausführlicherer Text: Hier erscheinen zum ersten Mal „die Sozialen Medien“, der Hinweis auf „andere“ Medien ist vorgelagert.

„Jugendliche sind heute in den Medien und auf Sozialen Plattformen permanent mit den Bildern eines scheinbar perfekten Lebens von Gleichaltrigen und Stars konfrontiert. Der Vergleich mit diesen überhöhten Idealbildern setzt Jugendliche oft psychisch stark unter Druck. Wenn dann die Bestärkung für ein positives Selbst- und Körperbild fehlt, können Selbstzweifel, Ängste, Zwangs- oder Essstörungen bis zu Depressionen und Krisen die Folge sein. Aufklärung und Unterstützung ist daher entscheidend.

Die Jugendkampagne «Echtes Leben» von Pro Juventute zeigt auf, dass das vermeintlich perfekte Leben der anderen nicht der Realität entspricht und bestärkt Jugendliche darin, dass sie nicht durch überhöhte Idealbilder unter Druck gesetzt werden. Ein aufmerksamkeitsstarker Spot, Plakate, Aktionen an Schulen, ein Comic, Merkblätter und Onlineinformationen sensibilisieren für die Thematik und bestärken Jugendliche in ihrem Selbstbild. Eltern, Fachpersonen und Schulen in der ganzen Schweiz erhalten Informationen, wie sie Jugendliche unterstützen können.

Auch hier wird kein Gegensatz zwischen „einer virtuellen Welt oder der realen Welt“ propagiert. Es werden Lebensrealitäten von Jugendlichen angesprochen, zur Sprache kommen Medieninhalte und nicht das Medium selbst.

Diese Massnahmen, die Plakate und der Kampagnen-Clip dienen dazu, für das Thema auf einen Blick und in wenigen Sekunden zu sensibilisieren. Die weiterführenden Massnahmen dienen der konkreten Bestärkung. So ergibt sich das gleiche Bild, wenn man die Kampagnen-Merkblätter unter die Lupe nimmt: Mit Tipps wie:
• „Blenden Sie zurück, wie es war, als Sie selber jung waren. Haben Sie sich nicht auch mit neuen Looks und auffälligen Frisuren von Ihren Eltern abgegrenzt? Waren Freundinnen, Freunde nicht wichtiger als alles andere? Teilen Sie solche Erfahrungen mit Ihrer Tochter, Ihrem Sohn.
• Versuchen Sie im Gespräch, Gemeinsamkeiten zwischen Jungsein früher und heute zu finden. So lernen Sie etwas über die Mediennutzung Ihres Kindes und haben die Möglichkeit, Ihre Lebens erfahrung einzubringen.“

versucht die Kampagne, Eltern dazu zu bringen, den Dualismus zu überwinden und mit Jugendlichen zusammen Brücken zu finden.

Der Comic
Hier findet sich tatsächlich eine Art Wertung. In einer flapsigen Sprache werden die „Möchtegern-Celebrities“ und die „Möchtegern-Rich-Kids“ entwertet und den „Real-Keepers“ gegenübergesetzt. Hier findet sich auch eine Aussage hinter der man ein „dualistisches Missgeschick“ lesen könnte: „Online wäre das schnell retuschiert. Aber das Leben ist nun mal offline.“

Das Comic schliesst mit dem Satz:

„Sie fallen nicht so auf im ganzen Trubel. Weder suchen sie ständig die Aufmerksamkeit von allen noch spucken sie laute Töne. Sie sind spontan und haben Lust auf Abenteuer, aber müssen sich nicht die ganze Zeit selbst etwas beweisen und sich dabei in Szene setzen? Das macht sich nicht langweiliger. Das macht sie unabhängiger und freier als die meisten anderen. Weil sie auf sich hören. Weil sie einfach sich selbst sind.“

Auch hier geht es um ein Verhalten, um Einstellung: wieder kein Hinweis auf online oder offline.

Die Blogbeiträge:

Philipp Wampfler erwähnt ein Zitat einer Autorin aus einem der veröffentlichten Blogbeiträge:
„Beatrix Wagner, Pro-Juventute-Beraterin, schreibt in ihrem Blogbeitrag als Fazit: «Im realen Kontakt mit seinen Mitmenschen kann man der Scheinwelt am besten aus dem Weg gehen. Einige spüren es früher als andere, dass der Blick aufs Handy nicht nur gut tut.» Kommunikation mit dem Handy ist für Jugendliche real. Chatten ist das echte Leben, weil zum echten Leben auch virtuelle Gespräche gehören. Diese Einsicht hängt nicht davon ab, ob diese Gespräche per Telefon, Brief, SMS oder WhatsApp geführt werden.

Möchte man hier eine Dualität herauslesen, wie Ph. Wampfler das macht, d.h., dass der ‚Offlinewelt‘ mehr ‚Realität‘ zugesprochen wird als der Onlinewelt, kann man das tatsächlich tun. Als medienkritischer Leser gehe ich nochmals zum Blog-Artikel und lese, was da geschrieben wurde. In welchem Zusammenhang steht denn diese Aussage?

„So schön eine Tellerwäscher-Karriere oder ein Lottosechser auch scheinen mag, so unrealistisch sind die doch. Der Alltag ist pickelhart und fordert alles von uns ab. Das kann schon mal zu depressiven Gefühlen führen, wenn man glaubt, es sollte anders sein. Denn wo Menschen sich im Spagat zwischen Schein und Sein bewegen, sind Anpassungsleistungen nötig. Diese sind anstrengend. Man ist erstaunt, wie hart uns die Berichterstattungen aus den Krisengebieten der Welt mit der Realität konfrontieren und im Gegenzug einem die Traumwelt der Werbung gefangen nimmt.

Doch was schadet uns schlussendlich mehr? Sind es die Bilder der Flüchtlingsströme aus dem Krieg oder die Scheinwelt? Wir entscheiden, wie wir Meldungen und Eindrücke verarbeiten und einordnen. Wer es ganz einfach nicht auf sich einwirken lassen will oder mag, kann die Geräte ausschalten und sich mit fundiertem Journalismus befassen. Im realen Kontakt mit seinen Mitmenschen kann man der Scheinwelt am besten aus dem Weg gehen. Einige spüren es früher als andere, dass der Blick aufs Handy nicht nur gut tut.“

Es geht da gar nicht um Jugendliche. Auch nicht um jugendliche Gespräche, weder um Kommunikation, noch darum die Online- gegen die Offline-Welt auszuspielen. Es geht nur darum, dass man sich ab und zu eine medienfreie Zeit gönnen soll. Was uns P. Wampfler an anderer Stelle auch empfiehlt:

All diese Beispiele bringen mich auf zwei Thesen:

1) Experten, die sich im Bereich Neue Medien/ Social Media bewegen, haben immer wieder gegen den Digitalen Dualismus zu kämpfen. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass es im Umgang mit Eltern und Fachpersonen eines der dringendsten Themen ist. Mit der Zeit wird der Experte auf das Thema fixiert und reagiert mit einem Abwehrreflex auf Formulierungen wie „echtes Leben“, weil aus Erfahrung weiss man, was danach kommt.

2) Durch die Verarbeitung einer grossen Menge an Informationen fehlt die Zeit, sich vertieft mit Inhalten auseinanderzusetzen. Auch hier lauert eine Falle, mit dem Urteilen schneller zu sein als mit dem genauen Hinschauen.

Zum Schluss möchte ich eine von vielen Rückmeldungen auf unser Engagement zitieren, die mich berührt hat, weil es von jemandem kommt, dem ich vor Jahren einmal kurz ihm Rahmen einer Arbeitsstelle begegnet bin. Von ihm habe ich die folgenden E-Mail bekommen, worin er zum Schluss kommt:

„…..Nun lese ich im Tagi das Interview mit Ihnen, das mir trotz der Kürze sehr weiterhilft. So können meine Frau und ich mit unseren Hobby-Enkelinnen bei deren Besuchen getrost eher über das reale Leben sprechen, ohne die sozialen Medien verteufeln zu wollen.“

Demokratisierung der pädagogischen Beziehung

Vor einiger Zeit habe ich auf meinem Blog einen Beitrag mit dem Titel „Demokratisierung von Erziehung“ veröffentlicht. Der darin beschriebene Gedanke lässt sich gut auf die pädagogische Beziehung übertragen.

Schauen wir uns also zwei typische Schauplätze der Offenen und Stationären Jugendarbeit an.

 Jugendtreff
Der Schlüssel des Medienraums ruht in der Tasche des Jugendarbeiters, seine Kollegin kümmert sich um die Herausgabe der Spiele für die Playstation. Die Regeln, wer in den Genuss der Medien kommt, sind aufgestellt und gut kommuniziert. Im Notfall kann der Zugang zu den Medien auch genutzt werden, um erzieherisch oder animatorisch zu wirken.

Jugendheim
Auch hier ist alles gut geregelt und vom Pädagogen durchdacht. Die Inhalte des Fernsehprogramms und der DVD sind vorbesprochen und mit der wöchentlichen verfügbaren Medienzeit abgestimmt. Die Medienzeit wird genutzt, um pädagogische Interventionen zu stützen.

Die gute alte Zeit! Vergleichsweise war es früher einfacher, seinen erzieherischen Auftrag wahrzunehmen und die Jugendlichen auf einem guten Weg an die Medien heranzuführen. Mit verträumtem Blick werden einige an diese Zeit zurückdenken, in der es so einfach war, Grenzen zu setzen und auf die Entwicklung des Individuums abgestimmte Impulse mitgeben zu können. Auch in dieser Beziehung hat sich nun eine digitale Kultur eingeschlichen. In jeder Hosentasche befindet sich der Zugang zu allen Informationen, zu allen Freunden und jeglichen Medieninhalten. Der/die Jugendliche ist weder im Heim noch im Jugendtreff auf die Gunst eines Pädagogen angewiesen, um an diese Inhalte zu kommen.

Die Fachperson hat nun verschiedene Möglichkeiten, sich und ihre Aufgabe wieder ins Spiel zu bringen. Und weil ich so gerne übertreibe, seien hier die zwei extremsten Positionen beschrieben, die eine Fachperson einnehmen kann.

Der unreflektierte Autokrat
Er besinnt sich auf seine alte Macht und versucht, diese durchzusetzen, indem er ein Handyverbot in den Räumen der Institution und WLAN-Codes einführt oder Gespräche mit den Eltern organsiert, um notfalls Geräte einzuziehen. Inhaltlich lassen sich diese Massnahmen mit der Absicht von Sicherheit und Schutz begründen. Man verweist auf die Risiken und Gesetze, die laufend gebrochen werden. Im Innern ist dies oft ein Kampf um Kontrolle und die eigene Rolle als erziehende Person.

Die offene Demokratin
Sie freut sich über die Möglichkeiten, die ihre Jugendlichen durch die digitalen Medien erhalten. Freudig geht sie mit ihnen ins Gespräch und lotet mit ihnen die Möglichkeiten aus, die die Medien haben. Spielerisch baut sie diese in ihren Arbeitstag ein und lernt mit den Jugendlichen zusammen. Es entstehen spannende Gespräche, in denen von ihr beobachtete Entwicklungen kritisch reflektiert werden. Es kommt auch vor, dass sie in diese Gespräche die geltenden Gesetze und Regeln der Institution einbringen muss. Im Gespräch sind aber bald für alle tragbare Regeln erarbeitet, die mit Engagement und täglicher Auseinandersetzung umgesetzt werden.

Die beiden Herangehensweisen unterscheiden sich in einer Grundhaltung, die ich hier als analog und digital bezeichnen will. Die analoge Herangehensweise zeichnet sich durch eine autoritäre Haltung aus, in der die Fachperson mehr weiss und sich durch ihre Autorität in die pädagogische Beziehung eingibt. In der digitalen Herangehensweise nimmt sich die Person nicht so viel Raum und bringt sich eher durch einen gleichberechtigten Beitrag in das Geschehen ein. Begegnungen geschehen auf Augenhöhe und im Austausch mit möglichst vielen Beteiligten.
In diesem Sinne erachte ich es als notwendig, dass sich pädagogische Fachpersonen ein digitales Verständnis für ihre Arbeit aneignen. Wenn sich dies zu abstrakt anhört, kann das Wort “digital” auch gut durch “demokratisch”, ” lebensweltorientiert” oder “partizipativ” ersetzt werden.

Demokratisierung von Erziehung

Die Kinder wollen gerne an einem Ort Ferien machen, wo Rambazamba und immer was los ist, die Eltern wollen dorthin, wo sie Ruhe finden und Zeit mit ihrer Familie verbringen können. Gewöhnlich setzen sich die Eltern durch und die Jugendlichen und Kinder finden sich in einem Kaff wieder, in dem nichts los ist. Nach dem die Junioren ein bisschen geschmollt haben, bleibt ihnen nichts anders übrig, als halbherzig die Zeit mit ihren Eltern abzusitzen und zu warten, bis sie wieder mit ihren Freunden zusammen sein können.
Die Entwicklung digitaler Medien macht heute den Eltern einen Strich durch die Rechnung. Die Jungen haben ihr Handy dabei und erfreuen sich, dem so ermöglichten Kontakt mit ihren Peers. Den Eltern bringt es den Frust und die Erkenntnis, dass ihre Kinder sich Tolleres, als die Zeit mit ihnen bei einem Spaziergang, vorstellen können. So verbringen sie die Ferien lieber im Haus, denn dort gibt es WLAN. Mit jeder Sekunde, die sie nicht im Netz verbringen, lassen sie die Eltern spüren, wo sie eigentlich lieber sein würden.

Mit diesem Beispiel möchte ich zeigen, wie hier das Handy als eine Art Katalysator für etwas fungiert, was schon immer Thema war. Es kommt irgendwann die Zeit, wo Eltern langweilig sind und sich Jugendliche am liebsten nur mit Gleichaltrigen auseinandersetzen. Natürlich ist das für viele Eltern eine schwierige Zeit, sind sie sich doch gewohnt, für ihre Kinder das Wichtigste zu sein. Die Möglichkeit, mit dem Handy in ständigem Kontakt mit Freunden zu sein, hält diese unliebsame Entwicklung den Eltern klar vor Augen. Was früher noch überspielbar war, ist heute offensichtlich.
Dasselbe gilt für Verbote, die Eltern gegenüber ihren Kindern aussprechen. Wenn früher noch eine gewisse Kontrolle über den Medienkonsum von Kindern möglich war, so ist dies heute hinfällig. Eltern sind immer mehr davon abhängig, dass Kinder bei der Einhaltung von Regeln mitarbeiten. Dies gilt vor allem, wenn sich Eltern den technologischen Entwicklungen verweigern und darum keine Ahnung haben, was mit welchen Geräten möglich ist.

 
Es ist verständlich, dass Eltern eine Wut auf das Handy entwickeln. Dahinter steckt aber etwas völlig anderes. Das Handy bringt Konflikte und Herausforderungen zutage, die im Familienalltag bestehen und durch die Möglichkeiten vom Handy an die Oberfläche kommen. Eltern werden gezwungen, mit Jugendlichen zu verhandeln und ihre Wünsche offen auf den Tisch zu legen. Dies ist nur fruchtbar, wenn diese Verhandlungen auf Augenhöhe geschehen (siehe mein Artikel zu Regeln). So leistet das Handy seinen Beitrag zu einer demokratischeren, sprich gleichberechtigteren Beziehung zwischen Eltern und ihren Kindern bzw. fast Erwachsenen.

Verbote und die Vermittlung von Medienkompetenz

In der Zusammenarbeit mit Fachkräften erlebe ich eine erfreuliche Entwicklung. Immer öfters werden Regeln, im Speziellen Verbote, als nicht abschliessende Lösungen von Problemen mit digitalen Medien gesehen. Vermehrt wird die Wichtigkeit der Vermittlung von Medienkompetenz in den Vordergrund gestellt. Die Erkenntnis, dass Medien genutzt werden müssen, um den Umgang mit ihnen zu lernen, setzt sich immer mehr durch. Dabei stellt sich neu aber die Frage: Dürfen wir überhaupt Regeln oder gar Verbote aufstellen? Ich nenne diesbezüglich das Beispiel einer Schulleiterin, die nach mehreren Fällen, in denen Nacktbilder von Schülerinnen und Schülern (SuS) auf dem Pausenhof kursiert waren, ein Handyverbot in der ganzen Schule erlassen hat. Die SuS müssen nun vor Unterrichtsbeginn ihr Handy abgeben und erhalten es erst nach Unterrichtsende wieder zurück. Dabei ist sie mit dieser Regel nicht ganz glücklich. So ist zwar das Problem im Umfeld der Schule gelöst, sie ist sich aber bewusst, dass durch dieses Verbot das Problem nur verschoben wird. Es stellt sich die Frage, wie es weitergehen soll. Solche und ähnliche Situationen erlebe ich in verschiedensten Settings. Fachkräfte sind sich gewohnt, Regeln und Verbote als Signal oder Schutzmassnahme zu erlassen. Die Frage lautet jedoch, wie aus solchen Situationen gelernt werden kann.

Verbote als Schutz
Weit verbreitet ist der Einsatz von Verboten, um Ruhe und/oder Sicherheit zu schaffen. Social Media macht vieles sichtbar. Jugendliche fotografieren und teilen nicht nur ihr eigenes Leben (mit allen Sonnen- und Schattenseiten), sondern auch das Leben, das sie mit Fachpersonen teilen. Ob es ein schönes, neues Kleid ist oder der Wutanfall einer Lehr- oder Betreuungsperson, spielt dabei keine Rolle. Ist man als Fachkraft im pädagogischen Bereich tätig, muss man sich mit diesem Umstand auseinandersetzen. Das Leben in der Klasse, auf der Wohngruppe oder im Jugendtreff ist nicht mehr länger unsichtbar für die Nichtanwesenden. (einen spannenden Fachartikel zu diesem Thema findet ihr hier ab S.6). Es ist verständlich, dass Fachkräfte sich und die Jugendlichen schützen wollen und daher den Gebrauch von Handys in ihren Institutionen verbieten wollen. Oft spielt in diesem Schutzgedanken auch der Aspekt mit, die Nutzungsdauer der Geräte einzuschränken, damit die Jugendlichen nicht “mediensüchtig” werden.

Verbote als Signal
Verbote werden auch eingesetzt, um zu signalisieren, was wir gut finden und was nicht. Kommt es zu Übergriffen, bei denen digitale Medien eine Rolle spielen (Missbrauch von Sexting, Cybermobbing usw.), kann ein generelles Verbot ein starkes Signal dafür sein, welche Verhaltensweisen eine Institution nicht akzeptiert, das alle zu spüren bekommen. Diese Signale werden jedoch nur verstanden, wenn sie gut kommuniziert werden.
In unserem Beispiel mit der Schule könnte das heissen: „Nach mehrmaligem Auftauchen von Nacktfotos auf dem Pausenplatz sehen wir uns gezwungen, auf dem Schulareal ein striktes Handyverbot zu erlassen. Verschiedene Abklärungen zur rechtlichen Situation sind in Abklärung.“
Durch eine solche Erklärung kann der Zusammenhang zwischen dem Verbot und dem Vorfall erkannt werden und das Verbot wird zum Signal.

Verbote zur Förderung der Medienkompetenz
Verbote können auch ermöglichen, andere Erfahrungen, als die bisher gekannten, zu machen. Medienkompetent ist, wer seine Mediennutzung reflektieren und daraus Lernerfahrungen ableiten kann. Wie sollen Jugendliche ihren Mediennutzen reflektieren, wenn sie nicht wissen, wie es ist, einen Unterricht oder einen Teil der Freizeit ohne ständige Nachrichtenflut zu bewältigen? Hier können Verbote in Form von Regeln helfen.

Auch dazu gibt es ein Beispiel, das ich vor kurzem erlebt habe: In einem Jugendheim wurde vor anderthalb Jahren der Nutzen von Handys massiv eingeschränkt. Auch bei dieser Institution stand damals ein Schutzgedanke im Vordergrund. Unter riesigem Protest wurden dann die Geräte eingesammelt und deren Nutzen streng geregelt. Nach einiger Zeit hat sich im Team die Erkenntnis durchgerungen, dass die Jugendlichen später in eine Mediengesellschaft entlassen werden und daher der Umgang mit Medien gelernt werden sollte. Das Team dieser Institution hatte den Mut, die geltenden Nutzungsregeln mit den Jugendlichen zu thematisieren. Sie waren sehr erstaunt darüber, wie die Jugendlichen reflektiert die Vorteile von medienfreier Zeit formulierten. Dieser Lerneffekt wäre wohl ohne dieses Verbot nicht möglich gewesen.

Regeln sind sinnvolle Verbote
Ich sehe es als eine wichtige Aufgabe in der Medienerziehung, Kinder und Jugendliche dabei zu unterstützen, ihren Mediengebrauch zu disziplinieren. Um einen sinnvollen Nutzen zu finden, brauchen sie klare Regeln, welche mit ihnen erarbeitet und von ihnen eingehalten werden sollten. Wir müssen uns bewusst sein, dass solche sinnvollen Regeln immer einen höheren Zeitaufwand und eine Auseinandersetzung fordern, weil:

• wir Regeln für ein Lebensbereich finden müssen, der uns selbst vielleicht fern ist, im Leben der Jugendlichen jedoch sehr wichtig ist. Darum sind wir umso mehr auf ein Miteinander mit Jugendlichen angewiesen, weil sonst der Kontakt mit ihnen nicht möglich ist und dabei auch die verhandelten Regeln nicht sinnvoll sind.

• Regeln begründet werden müssen. Eine gute Begründung bedingt eine klare Haltung, welche wiederum eine Auseinandersetzung mit sich und dem Thema bedingt.

• Eine Verhandlung über Regeln bedingt eine gute Beziehung, welche wiederum nur auf Vertrauen und Verlässlichkeit beruhen kann.

• Der Lernprozess, der durch eine Regel angeregt werden soll, muss meistens begleitet werden. Dies bedingt eine Kommunikation, die für viele Organisationen noch neu ist (z.B. zwischen der Schule und den SuS).

Für unser Beispiel der Schule würde dies bedeuten, dass die Schulleitung mit den SuS in eine Kommunikation einsteigt. Sie muss sich nach der Erfahrung, welche die SuS mit der neuen Regel gemacht haben, erkundigen. Mit den Rückmeldungen nach solchen Gesprächen oder einer Befragung kann sie das in einer Notsituation erlassene Verbot in eine sinnvolle Regel umwandeln. Auf diese Weise kann ein Lernprozess für die ganze Schule entstehen.

Fazit:
Traut euch, Regeln und Verbote aufzustellen, wenn diese Lernen und neue Erfahrungen zum Ziel haben.

Wasauchimmer-Sucht

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Pornosucht, Handysucht und Selfiesucht. Jede Woche wird uns ein süchtig machendes Phänomen präsentiert, als hätte sich die Welt in ein äusserst aktives Drogenlabor verwandelt. Dabei wir mit so viel Halbwissen um sich geworfen, dass man die Suche nach einer Sucht beinahe als Suchtmittel bezeichnen könnte. Hier ein Exkurs zum Thema Sucht und Abhängigkeit.
Substanzgebundene Süchte sind noch verhältnismässig einfach zu verstehen. Man nimmt eine Substanz. Je nach Substanz verlangt der Körper immer wieder nach dieser, und wenn er nicht mehr ohne kann, ist man davon abhängig. Ganz so einfach ist es aber nicht. Selbst wenn Substanzen im Spiel sind, ist es die menschliche Psyche, die zum Phänomen Sucht einiges beiträgt. Der psychische Teil einer Sucht ist weit schwieriger zu verstehen als die körperliche Ebene.

Dies zeigt sich in der vollen Komplexität bei der Verhaltenssucht. Dabei entwickeln Menschen eine Sucht in Zusammenhang mit einem Verhalten, das für viele andere unproblematisch ist. Hier zählen die Protagonisten Shopping, Handy, Porno, Gamen und seit neuestem auch das Selfie dazu.

Wie passiert es also, dass Menschen nach solchen Sachen „süchtig“ werden?

Jeder Mensch in jedem Alter hat verschiedene Bedürfnisse. Diese reichen von ganz grundlegenden wie Sicherheit, Essen, Schlafen bis zur Selbstverwirklichung und Musse (vgl. Masslof). Des Weiteren hat er Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Je nach Alter sind das „ein Platz in der Gesellschaft finden“ „ sich in der Arbeitswelt zu positionieren“ oder „sich mit dem Alterungsprozess des Körpers abfinden“. Je nach dem wie gut es einem gelingt, diese Aufgaben zu erledigen, ist der Mensch zufrieden oder eben nicht. Wenn in dieser Entwicklung etwas schief läuft, gibt es verschiedene mögliche Folgen. Diese reichen von einer simplen schlechten Laune bis zu schwerwiegenden psychischen Problemen. Die Sucht ist eine mögliche dieser Folgen.
Süchtig zu werden ist ein Prozess. Am Anfang besteht eine Unzufriedenheit oder ein Mangel im psychischen Gleichgewicht.
Da ich in letzter Zeit viel arbeite, habe ich wenig Zeit, mich mit meinen Freunden zu treffen. Das macht mich unzufrieden.
Der Mensch sucht dann nach einer Möglichkeit, diese Unzufriedenheit auszugleichen. Das kann er durch den Konsum von Substanzen oder durch das Ausweichen auf ein bestimmtes Verhalten tun. Ob es sich dabei um Shoppen, Spielen, Sport, Musik, einen Porno zu schauen oder ein Selfie handelt,  spielt an und für sich keine Rolle. Wie die Wahl getroffen wird, hängt von den Möglichkeiten und den Vorlieben des Individuums ab.
Dank meinem neuen Smartphone und seinen Sozial-Media-Apps kann ich zwischendurch und von unterwegs mit meinen Freunden Kontakt haben.
Dieser Ausgleich wird in einem nächsten Schritt zur Gewohnheit, intensiviert sich und bekommt einen immer grösseren Wert.
Das ist eine bequeme Art, mit Freunden Kontakt zu haben, und ich spare Zeit. Dies kann dazu führe, dass ich das wöchentliche Treffen in unser Stammbeiz auslasse, denn ich treffe ja via Internet viel mehr Freunde.
Der anfängliche Ausgleich wird so immer mehr zum Zentrum der Aufmerksamkeit und lenkt zunehmend von der anfänglichen Unzufriedenheit ab. Das Verflixte dabei ist, dass die Ablenkung die Unzufriedenheit wachsen lässt. Hier spielt es dann schon eine Rolle, was man sich als Ablenkung gewählt hat. Nicht jedes Verhalten entwickelt sofort negative Folgen oder wird vom Umfeld nicht degoutiert.
Ich habe jetzt fast keine Freunde mehr, der Stammtisch interessiert mich gar nicht mehr. Ich habe jetzt noch dieses Game, da treffe ich auch Leute, und ich muss ja auch noch die Bekanntschaften in der Singelbörse pflegen.
Durch die Fixierung auf diesen Ausgleich entsteht mit der Zeit immer mehr Unzufriedenheit, die ausgeglichen werden muss.
Weil ich immer online bin, habe ich meinen Job verloren. Aus Geldmangel verlasse ich kaum noch das Haus, Essen bestelle ich im Internet, das ist am billigsten.

Das Individuum kann natürlich an jedem Punkt in diesem Prozesse korrigierend eingreifen und die Dynamik verlassen. Je länger damit gewartet wird, um so schwieriger und anstrengender wird es.
Die meisten von uns haben die eine oder andere Gewohnheit, die eine Suchttendenz aufweist. Wir sagen dann gerne von uns „ich bin schokoladensüchtig“ oder „ich bin facebooksüchtig“. Da wir aber über Kompetenzen verfügen, die als Schutzfaktoren wirken (dazu weiter unten mehr), regulieren wir uns selbst und die Trost-Schoggi bleibt einfach „eine blöde Angewohnheit“.
Von einer Sucht spricht man, wenn mehrere der folgenden Faktoren auftreten:

• Person wird nervös oder unruhig, wenn sie dem Verhalten nicht nachgehen kann/darf. Schlafmangel, Erschöpfung und Bewegungsmangel prägen den Alltag.
• Sie verheimlicht der Zeit oder die Häufigkeit, die für das Verhalten aufgewendet wird. Die Person versucht bei Nachfragen, vom Thema abzulenken.
• Sie kann das Verhalten nicht mehr einschränken. Die Person verliert die Kontrolle über ihr Tun.
• Die Person bekommt Schuld- und Schamgefühle, wenn sie versucht „aufzuhören“ und es nicht klappt.
• Die Person vernachlässigt andere Aktivitäten in ihrer Freizeit. Der Freundeskreis konzentriert sich auf Personen, die mit dem Verhalten in Verbindung stehen.
•Die Person hat Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, ihre Leistungen in der Schule/am Arbeitsplatz nehmen stark ab.
•Die Person richtet ihren Zeitplan vor allem oder ausschliesslich nach den Bedingungen oder der Notwendigkeit ihres Verhaltens.
Warum werden einige Leute süchtig und anderen nicht?
Weil jeder Mensch anders ist und andere Grundvoraussetzungen mitbringt und entwickelt. Hier spricht man von Risikofaktoren und von Schutzfaktoren. Risikofaktoren begünstigen eine Suchtentwicklung. Schutzfaktoren machen eine Suchtentwicklung unwahrscheinlicher.
Risikofaktoren sind:
• „Leichte Erhältlichkeit von Substanzen
• Geringer sozialer Zusammenhalt, mangelnde soziale Kontrolle
• Eine ungünstige soziale Ausgangslage (dysfunktionale Familien, Suchtproblematik in der Familie)
• Desorganisierte Schule, unklare Normen
• Fehlen einer tragfähigen Bindung zu den Eltern
• Schulversagen
• Geringe Impulskontrolle, mangelnde soziale, kognitive und emotionale Kompetenzen
• Frühe Auffälligkeiten und Problemverhalten
• Genetische Risikofaktoren
• Missbrauchs- und Gewalterfahrungen“
(Theoretische Grundlagen der Suchtprävention, Sucht Schweiz)
Schutzfaktoren sind:
• „Möglichkeit an Teilhabe und Integration in der Gesellschaft und in der Gemeinde (Bildung, Arbeit, Einkommen)
• Positive Werte und Normen und deren Umsetzung
• Positives Schulklima, kohärente Werte und Normen
• Stabile, gute Bindungen zu den Eltern
• Konsistenter Erziehungsstil
• Kognitive Kompetenzen
• Soziale und emotionale Kompetenz“
(Theoretische Grundlagen der Suchtprävention, Sucht Schweiz)
Fazit:
Also kurz gesagt, ist es nicht die Tätigkeit oder das Verhalten, das süchtig macht, sondern die Person entwickelt eine Sucht im Zusammenspiel mit einem Verhalten oder in einer Tätigkeit.
Aus „das Handy macht immer mehr Menschen süchtig“ wird dann „immer mehr Süchtige leben ihre Handysucht aus“. Dieser kleine Unterschied hat aber weitreichende Folgen.
So führen verschlechterte Rahmenbedingungen für Jugendliche (Jugendarbeitslosigkeit, Verdrängung im öffentlichen Raum, erschwerte Identitätsfindung durch immer mehr Beeinflussung durch kommerzielle Medien) viel eher zur Entwicklung von Suchttendenzen als das Vorhandensein von Handys, Onlin- Games oder der Möglichkeit, Fotos von sich zu machen.
Wenn in unserer Gesellschaft immer mehr solche Süchte auftauchen, ist die wichtige Frage: Was können wir tun, um die Schutzfaktoren jeder einzelnen Person zu fördern?
Die Antworten auf diese Fragen sind jedoch weit unbequemer als jede Woche einen neuen Schuldigen zu finden, der süchtig macht.

Digitale Kultur und Identität

Wie versprochen, gehe ich in diesem Artikel vertieft auf das Thema Identitätsbildung im Zusammenhang mit der Entwicklung einer digitalen Kultur ein. Das hier Wiedergegebene entspricht dem Vortrag von Serge Tisseron, den er am Symposium in Lausanne gehalten hat. Dieser Artikel schliesst also an meinen letzten Artikel an. Die Frische seiner Denkweise motivierte mich, seine Aussagen hier zusammenzufassen, gerade weil sie ein Gegensatz zu den üblichen Veröffentlichungen zum Thema darstellen.

Laut Tisseron haben sich die Grundvoraussetzungen für die Entwicklung von Identität in den letzten Jahren verändert. Unter anderem zeigt sich das auch im Begriff des „Privaten“. Im Gegensatz zu früher ist heute nichts mehr wirklich privat und nichts mehr wirklich öffentlich. Dies spielt darum eine Rolle, weil in der Bildung einer Identität neben dem „Sich-selbst-Erkennen“ immer auch der Wunsch, erkannt zu werden, mitspielt.

Zur Zeit unserer Grosseltern hatten die Menschen nur die Möglichkeit, sich im Spiegel selbst zu sehen. Diese Spiegel hingen an einem festen Platz, daher sahen sie sich immer aus derselben Perspektive, am gleichen Ort und in ähnlichen Lichtverhältnissen. So zeigten diese Spiegel nicht nur ein sehr einseitiges, sondern auch falsches Bild von ihnen. Das Spiegelbild war immer ein Spiegelverkehrtes Ich. Die Menschen hatten damals also ein Bild von ihrem Aussehen, das nicht der Realität entsprach.

Heute ist die Situation anders. Neben dem Bild im Spiegel sehen sich die Menschen von klein auf auch auf Fotos oder in Filmen. In diesen Filmen sehen sie sich, wie andere sie sehen, also nicht spiegelverkehrt. So entstehen von Anfang an verschiedene Ich-Bilder, die miteinander in Verbindung gebracht werden müssen. Werden sie grösser, kommen noch weitere Ich-Bilder dazu. In Computerspielen nutzen sie die Möglichkeit, Avatare von sich zu schaffen, und erhalten so weitere Bilder von sich, die ihre Identitätsentwicklung beeinflussen.

Die Digitalisierung macht Formen des Ichs möglich, die es früher nicht gab. Durch diese Umstände ist die Identität weniger fest als noch vor einigen Jahren. Tisseron benutzt das Wort „flüssig“ (liquid), das ich sehr passend finde. Diese Entwicklung hat aber nicht erst mit der Entwicklung der digitalen Medien begonnen. Diese Vervielfältigung möglicher Selbstbilder hat schon viel früher eingesetzt. Noch vor einigen Jahrzehnten verfügte eine Person über zwei verschiedene Kleidungsvarianten: die Arbeits- und die Sonntagskleider. Damals gab es nur diese beiden Erscheinungsbilder. Über Jahre entwickelten sich immer mehr Möglichkeiten, sich darzustellen und sich mit verschiedenen Rollen zu identifizieren.

Weiter geht Tisseron darauf ein, dass die Bildung von Identität immer mit der Erlangung von Anerkennung zusammenhängt. Dies zeigt sich gut im Prozess des Erwachsenwerdens. Früher war ein eher starrer Weg gezeichnet, der durch die Erfüllung eines klar vorgegebenen Lebenswegs auch die dazugehörende Anerkennung garantierte. Die Erlangung eines Berufs oder die Gründung einer Familie bedeutete die Zusicherung der entsprechenden Anerkennung. Diese Einfachheit existiert heute nicht mehr. Auch hier bringt Tisseron den Begriff „liquid“ ins Spiel. Die Jugend sei heute mehr gefordert, flexibel zu sein und den Lebensweg in ständiger Bewegung (Liquidität) zu gehen. Zu diesem Thema verweist Tisseron auf Jocelyn Lachance, der diesen Prozess genauer beschreibt. Ich werde dies in einem separaten Blogbeitrag noch ausführen.

Mit diesen Veränderungen wandeln sich auch die Ansprüche an die Heranwachsenden. Waren früher diejenigen im Vorteil, die zielstrebig einem Weg folgen konnten, so sind es heute und in Zukunft diejenigen, die flexibel auf Veränderungen reagieren können und mehrere Möglichkeiten gleichzeitig verfolgen können.

Tisseron sagt:

„Die Träumer von gestern, sind die Angepassten von morgen.“

Diese vielfältigen Möglichkeiten, die die digitale Kultur mit sich bringt, benötigen eine höhere Flexibilität, sich an die Zukunft anzupassen. Dies steht nicht nur im Zusammenhang mit der Entwicklung von digitalen Technologien. Diese Entwicklungen sind viel mehr ein Zeichen unserer Zeit. In einem Nebensatz weist Tisseron darauf hin, dass wir uns beispielsweisse auch an einige klimatische Veränderungen gewöhnen werden müssen. So ist auch der oben genannte liquide Typ wichtiger, um sich in einer schnell wandelnden Gesellschaft zurechtzufinden.

Dieser Hinweis beeindruckte mich, weil er die Grundhaltung von Tisseron widerspiegelt, nämlich dass wir gut daran täten, unseren Geist flexibel und offen für Neues zu halten, um so die Chancen unserer Zukunft zu sehen und nicht an ihr zu verzweifeln.

Serge Tisseron Live, digitale Kultur, flüchtige Kontakte und andere frische Gedanken

Am 05. Juni fand in Lausanne ein Symposium zum Thema Jugendliche und Neue Medien statt. Dort hatte ich das Vergnügen, Serge Tisseron sprechen zu hören. Hier ein Versuch, dieses Erlebnis in Worte zu fassen:

Am Anfang seines Vortrags macht Serge Tisseron eine einfache Aussage, welche die folgenden Ausführungen zusammenfasst. Er sagt, die Hauptaufgabe der Erwachsenen bestehe nicht darin, Game- und Bildschirmzeiten oder Aufstellplätze von Computern zu bestimmen, sondern die Herausforderung sei, Jugendliche und ihr ganzes Tun zu verstehen, das heisst, was sie machen, was sie bewegt und wie sie ihre Aufgaben angehen. Für die Erwachsenen sei es immer wichtiger, mit der Zeit mitzuhalten. Ein Mithalten in der Zukunft bedinge das Mithalten heute. Dabei könne keine Stufe ausgelassen werden. Sein Publikum ruft er dazu auf, die Neugier zu behalten und wenn die Neugier bereits verloren sei, sie möglichst schnell wiederzufinden. Er betont, dass diese Veränderung des „Esprits“ wichtiger sei als das Wie und Wo der Mediennutzung.

Zwei Formen von Intelligenz
Tisseron beschreibt zwei Formen von Intelligenz: auf der einen Seite die „lineare“ Intelligenz, die er auch als „kristallin“ beschreibt. Sie merkt sich Sachverhalte, reiht diese aneinander, um sie, wie Kristalle, in eine Verbindung zu bringen. Auf der anderen Seite beschreibt er die „räumlich taktile“ Intelligenz, die sich mehr auf einen dreidimensionalen Raum bezieht und weniger rational ist, sondern sich vielmehr als taktil beschreiben lässt. Zur Zeit der Höhlenmenschen waren diese beiden Intelligenzen noch gleichberechtigt. Seit der Erfindung der Schrift und des Buches fristet die Intelligenz der Bilder und des Gefühls jedoch ein Schattendasein, und die „lineare“ Intelligenz feiert einen Siegeszug. Durch das Aufkommen der digitalen Kultur könnten diese beiden Formen der Intelligenz allerdings wieder gleichberechtigt nebeneinander bestehen.

Weiter beschreibt Tisseron Aspekte dieser neuen digitalen Kultur, die er der noch zumeist vorherrschenden Kultur des Buches und der Schrift entgegenhält. Dazu benutzt er als Beispiel einen Text und seine Eigenschaften. Ein Text in der „Buchkultur“ verfügt über einen klaren Anfang und ein klares Ende. Es gibt immer einen Autor, der den Text verfasst und unterschreibt. Als ein wichtiges Merkmal beschreibt er, dass diese Texte alleine geschrieben werden. Dieser Text ist beendet und wird in einer festen Form (Buch, Zeitung) herausgegeben. Der Text, der typisch ist für die digitale Kultur, hat einen offenen Anfang und ein nicht festgelegtes Ende. Er ist nicht abgeschlossen, da er jederzeit veränderbar ist und wird in einer offenen Form veröffentlicht (Blog, Forum). Auch ist es üblich, einen solchen Text als Kollektiv ohne klaren Absender zu verfassen.

Tisseron meint, dass die Präsenz von Bildschirmen nicht dafür ausschlaggebend sei, welche Kultur vorherrsche. Vielmehr sei es eine Geisteshaltung, eben die Kultur, die entscheidend sei. Er verweist auf die Wichtigkeit, Tiefe und die unglaublichen Möglichkeiten, die diese Kulturänderung mit sich bringe. Alle seine Beispiele hier zu beschreiben, würde diese Zusammenfassung seines Vortrags sprengen. Daher lasse ich es bei diesen Beschreibungen, verspreche aber, diesem Thema einen weiteren Artikel zu widmen.

Möglichkeiten der digitalen Kultur
Als Beispiel weist er darauf hin, dass durch das Gamen eine Entwicklung von neuen Lernformen ermöglicht würde. Wie wäre das Lernen an einer Schule, wenn durch das Gamen bekannte Belohnungsfunktionen genutzt würden? Wie wäre es, wenn wir im Alltäglichen lernen, jeder kleine Erfolg durch ein kleines Feuerwerk gefeiert würde und jeder Lernschritt durch eine kleine Belohnung, ein Geräusch, Musik oder Special Effekts begleitet wäre? Weiter könnten, inspiriert von Games, Lernformen entstehen, die räumlich wie zeitlich unabhängig sind und sich völlig dem Lerntempo der Lernenden anpassen.
Geschichten als Verbindung der beiden Intelligenzformen
Die Kinder sollten nicht von Bildschirmen ferngehalten werden, sondern es sei wichtig, mit den Kindern zu besprechen, was sie sehen und erleben. Dies helfe den Kindern, das Gesehene in nutzbares Wissen und verwertbare Lernerfahrungen zu verwandeln. In diesem Prozess würde sich die Wahrnehmung, die über Bilder, die eher räumliche Intelligenz beanspruchen, mit der linearen Intelligenz nutzbar gemacht, welche sich eher auf das Wort, die Sprache fokussiert. Mehrmals betonte er in diesem Zusammenhang die Wichtigkeit, Kindern Geschichten zu erzählen und sich von diesen welche erzählen zu lassen. Dies dient dazu, die beiden beschriebenen Intelligenzformen in Verbindung zu bringen. Bilder und Filme wecken Gefühle auf eine eindrückliche Art und Weise. Entscheidend ist, dass Kinder über diese Erfahrungen sprechen. Dabei sollen sie dabei unterstützt werden, diese erlebten Geschichten (Bilder, Hörbücher, Filme) in eine lineare Form von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu bringen, um die Geschichten so für sie fassbar zu machen.

Die Freude an Geschichten entsteht einerseits durch das viele Hören von Geschichten und andererseits, wenn den Geschichten der Kinder zugehört wird. So wird zum Beispiel auch die Lust zu Lesen durch die Freude an Geschichten geweckt, und es entsteht so auch ein Sinn für das Erlernen des Schreibens.
Flüchtige Bindungen in der digitalen Kultur (siehe auch weak ties)
Flüchtige Kontakte sind in der digitalen Kultur sehr wichtig. Neben den festen Kontakten, wie Familie und Freunde, werden diese flüchtigen immer wichtiger. Diese Verbindungen zeichnen sich durch ihre Aktivierbarkeit aus. Braucht der Jugendliche einen Bandraum, eine erste Wohnung oder einen Job, so tut er dies über soziale Netzwerke kund. Sofort werden die Kontakte, die einen Hinweis zum Gewünschten haben, aktiviert. So sind die 500 „stillen“ FB-Freunde plötzlich eminent wichtig.

Dazu kommt, dass es für Erwachsene schwierig zu verstehen ist welche Intimität innerhalb solcher flüchtigen Bindungen vorhanden sein kann. So können Jugendliche mit quasi Unbekannten intensive Momente teilen, indem sie sich zum Beispiel über ihre Lieblingsmusik austauschen. Dazu ist ein näheres Kennen, also auch das Wissen über Aussehen oder Alter, nicht nötig. Weiter sind diese flüchtigen Bindungen dazu nützlich, die eigene Identität zu stützen. Durch das Auffinden einer Gruppe mit ähnlichen Interessen erhält das Individuum eine Bestärkung eines Einzelaspektes seiner Persönlichkeit. Zum Beispiel findet sich der Jugendliche in seinem Interesse für ein Fussballclub unterstützt, wenn er dieses teilen kann.

 

 

Fragen am Schluss
Das Beeindruckende an Serge Tisseron ist seine positive Ausstrahlung. So wird er im Anschluss des Vortrags auch gefragt, warum er trotz seines Alters (74) so jung wirke.
Tisseron antwortet, er sei mit Kino und Comics aufgewachsen. Diese haben ihm Freude bereitet und die damit verbundenen Möglichkeiten hätten ihn jung gehalten. Dabei macht er klar, dass das Jungsein nichts mit Kleidung, Aussehen und der Menge von Botox unter der Haut zu tun hat, sondern mit der anfangs beschriebenen Fähigkeit des Geistes, der Welt mit Freude und Neugier zu begegnen Diese Freude sieht man ihm an.

Darauf folgten noch einige weitere Fragen, deren Antworten die obigen Ausführungen stützten oder ganz neue Fester öffneten. Diese werde ich in einigen folgenden Artikeln beschreiben.

 

Sexting Dramatisierung vs. Sensibilisierung

Aktuell findet online eine kleine Diskussion um die Aktualität über und die Dringlichkeit von Sexting statt.

Solche Diskussionen sind sehr wichtig. Nur, wenn über Themen diskutiert wird, kann auch dazu sensibilisiert werden. Gibt es Sexting? Was ist daran schlimm? Und braucht es Aufklärung?

Jugendorganisationen wie Pro Juventute und ihre Partner setzen sich seit langem für die Förderung der Medienkompetenz ein, informieren über mögliche negative Folgen von Sexting und zeigen Opfern vom Missbrauch von Sexting und Cyber-Mobbing, wo sie Hilfe finden. Vor einigen Tagen antwortete der Blogger Philippe Wampfler dem Newsportal Watson auf Fragen zum Thema Sexting.  Es ist erfreulich zu lesen, dass er mehrheitlich jene Empfehlungen bezüglich des Umgangs mit Sexting weitergibt, die Pro Juventute seit längerem empfiehlt. Er hat gleichzeitig auch seine Meinung kundgetan bezüglich der Aufklärungsarbeit von Pro Juventute und der Berichterstattung darüber. Das Newsportal hebt eine einzelne Aussage als Titel hervor “Das Thema Sexting wird ausgeschlachtet und dramatisiert”. Diese Aussage löste Diskussionen aus. Philippe Wampfler fasste im folgendem Blogbeitrag nach und präzisierte seine Aussagen.

Diesen Faden nehme ich gerne auf. Da sich meine Fachmeinung mit den erarbeiteten Inhalten in der Aufklärungsarbeit von Pro Juventute deckt, erlaube ich mir, in Ich-Form zu schreiben.

1 Sexting ist ein relativ neues Wort, und die Definitionen dazu sind nicht starr. Folglich müssen wir immer wieder auch klären, was wir mit dem Wort meinen. Ich verstehe darunter das Verschicken von selbst gemachten, intimen Fotos an eine bestimmte  Person. Es gibt aber verschiedene Definitionen (z.B. hier). In seinem Blogbeitrag nennt PW dies eine „mediatisierte Form von sexueller Aktivität“. In meinen Worten ist dies „eine neue Spielform der Liebe“.

Werden Fotos ohne Einverständnis gemacht, an andere weitergeschickt oder veröffentlicht, ist dies ein Missbrauch dieser Bilder und stellt darum einen Übergriff dar. Darum spreche ich diesbezüglich auch von Missbrauch von Sexting.

Wir sind uns einig, diesem Missbrauch begegnen zu müssen und den Betroffenen Hilfe zu bieten. Darum ist es auch so wichtig, darüber zu sprechen. Jugendliche, Eltern, Lehrpersonen und im Grösseren gesehen auch unsere Gesellschaft; wir alle müssen darüber sprechen und Wege finden, mit diesen und anderen Entwicklungen umzugehen.

Damit wären wir auch bei der Analogie zum Strassenverkehr. Dabei geht es nicht nur um regulative (Strassenverkehrsgesetze – Medienschutzgesetze) und repressive (Verkehrspolizei –Cyberpolizei) Massnahmen, sondern vor allem darum, die Erziehung und Begleitung von Kindern und Jugendlichen zu fördern – mit welchen Entwicklungen auch immer wir uns aktuell auseinandersetzen. Diese sind weder per se negativ (so ist Sexting, wie in den Merkblättern der Pro Juventute ausgeführt, nichts Schlechtes – nur der Missbrauch davon) noch per se positiv. Jugendlichen müssen Aufklärung erhalten, wie damit umzugehen ist und welche Risiken es gibt, damit sie eigenverantwortlich heranwachsen können. Im Strassenverkehr sind Gefahren bekannt und bleiben bis auf ein paar aufkommende Veränderungen (bspw. durch das Aufkommen von Elektrovelos) weitgehend gleich. Es ist ganz normal, dass der Verkehrspolizist in die Schule kommt und dass Eltern ihre Kinder aufklären über die Gefahren im Strassenverkehr. In der Medienerziehung sind wir aber noch nicht soweit. Einerseits weil die „Neuen Medien“ noch wenig erforscht sind, andererseits weil sie sich so schnell weiterentwickeln, dass es sogar Fachleuten z. T. schwer fällt, die Veränderungen nachzuvollziehen. Um so erfreulicher finde ich Entwicklungen wie den Entscheid des Europäischen Gerichtshofs, Suchmaschienenbetreiber beim Datenschutz in die Pflicht zu nehmen. Wir sind da als Gesellschaft gefordert, einen guten Umgang zu entwickeln.

Die Idee, dass Aufklärung und Prävention Risiken dramatisieren oder Kinder dazu bringen, etwas auszuprobieren, ist so alt wie falsch. Die gleichen Bedenken gab es beispielsweise bei der Aufklärung zum Schutz vor Geschlechtskrankheiten: Unterstellt man damit nicht allen Jugendlichen, dass sie verantwortungslos ungeschützten Sex haben? Und bringt man sie so nicht erst auf die Idee, überhaupt ungeschützten Sex zu haben? Heute würde das wohl kaum einer mehr behaupten. An der gleichen Stelle stehen wir heute – und diese Diskussion wollen und müssen wir führen. Ich finde die Denkweisen, wie sie in diesen Blogbeiträgen zur Diskussion gestellt wurden, daher sehr wichtig.

Die Pro Juventute bringt durch ihre Aufklärungskampagne Themen ins Gespräch, die Kinder, Jugendliche, Eltern und Schulen beschäftigen. Dabei kommt immer mal wieder der Vorwurf der „Dramatisierung“ auf. Dabei ist es ein Paradox, dass das Warnen vor Gefahren immer auch die Wahrnehmung der Betroffenen beeinflusst. PW schreibt: „Werden Jugendliche als ohnmächtig, statt als handlungsfähig dargestellt, verändert das den Umgang mit ihnen und ihre soziale Roll.“ Das ist ein sehr wichtiger Punkt von ihm. Daher setze ich stets auf die Eigenverantwortung der Jugendlichen und nicht auf Verbote. Ich finde es gut, wenn sich die Pro Juventute politisch dafür einsetzt. Dabei bin ich froh um alle, die sich in diesem Sinne engagieren. Daher gilt hier ein spezieller Dank an das unermüdliche Engagement von PW, die guten Seiten von Social Media und deren kompetente Anwender immer wieder zu betonen.

Das heisst aber nicht, dass gleichzeitig keine Aufklärung betrieben werden soll. Es darf nicht sein, dass die „Handlungsfähigen“ ihre Unterstützung im sozialen Umfeld erhalten und es die Ohnmächtigen, die Hilfsbedürftigen sind, die leiden. Für diese müssen die Themen auf den Tisch.

Würden wir diese Diskussionen über die Wichtigkeit des Themas und die Definition der Begrifflichkeiten führen? Würden Lehrpersonen auf Hilfmittel und Medienberichte zurückgreifen können, um das Thema in der Schule einzubringen, wenn es die Kampagne nicht gegeben hätte?

Ich sehe eine Kampagne als ein Wechselspiel zwischen dem Inhalt und der Form der Kampagne und der Medien und anderen Rezipienten der Inhalte. Einiges ist vorauszusehen, anderes nicht. Bei der Sexting-Kampagne konnte ich feststellen, dass wir in ein brausendes Wespennest gestossen haben. Darum finde ich solche Diskussionen auch notwendig und sinnvoll. Ein wichtiger Tipp, der auch Teil der Kampagne ist, lautet: Bleiben Sie ruhig und hören Sie zu, ohne zu verurteilen.

Apps selber beurteilen

Apps selber beurteilen

Dieser Beitrag ist die Weiterführung meines letzten Artikels, in welchem ich die stetige Neuentwicklung von Apps thematisiert habe.

Das Gespräch mit einer Gruppe von Jugendlichen ist im Gange, es geht um WhatsApp und die neusten Entwicklungen, beispielsweise die zunehmenden Fragen über Ask. Fragen über Ask? Was heisst das nun wieder? Erneut stellen sich die Fragen: Welche Apps kenne ich, sollte ich kennen und wie verliere ich aufgrund der vielen unterschiedlichen Apps nicht den Überblick? In meinem letzten Blogbeitrag habe ich schon erwähnt, wie wichtig ich es finde, nicht alle Apps zu kennen, aber zu wissen, wie ich mich über neue Trends informieren kann. Dazu eine kleine Anleitung:

1.   Nachfragen: Die Jugendlichen können direkt mit den folgenden Fragen angesprochen werden: Was ist toll an dieser App? Was kann man damit machen? Wer hat es auch? Wie sind die Erfahrungen damit? Im besten Falle erfährt man bereits dann, worum es geht. Auch wenn man nicht alles versteht, lohnt es sich, einige der erwähnten Begriffe zu merken. Dabei erfahre ich, dass Ask.fm eine neue App ist, bei der sich alles um Fragen dreht. Später kann gezielt nach diesen Stichworten gesucht werden.

2.   Sich informieren: Ich empfehle die Klassiker Google, Youtube, Wikipedia.

Google:
Die Suchresultate bei Google zum Namen der App geben einen ersten Einblick, wie die App einzuschätzen ist. Sowohl Warnungen als auch Lob bezüglich der App sind zu finden. Dabei stellt sich die Frage, ob sich die positiven und negativen Eigenschaften in einem Gleichgewicht befinden. Versuchen Sie, die Seite der Entwicklungsfirma ausfindig zu machen. Dort finden Sie Informationen zu Verkauf und Werbung der App. Im Falle von ask.fm finde ich viele Suchresultate, die von ask.fm selber stammen. Der Artikel in Wikipedia wird angezeigt sowie weitere bei klicksafe.de und saferinternet.at. Die Lektüre der letzten beiden ist zu empfehlen. Jetzt haben Sie bereits einen Überblick, wie die App funktioniert und was sie kann. Der Fokus liegt dabei auf der Sicht eines Erwachsenen.

Youtube:
Nachdem Sie den Namen der App ins Suchfenster eingegeben haben, erhalten Sie eine breite Palette von Filmen und Tutorials, in denen die App vorgestellt, beschrieben, gelobt und kritisiert wird. Besonders nützlich sind Kritiken von Jugendlichen selbst. Nun können Sie auch Begriffen nachgehen, die Sie sich von den Gesprächen mit Jugendlichen gemerkt haben oder die sich bei der Googlerecherche ergeben haben. Dementsprechend suchen Sie beispielsweise nach: „ask.fm Datenschutz“, „ask.fm anonyme Fragen“, „ask.fm anonyme Fragen blocken“, „Wie funktioniert ask.fm?“, „Was ist toll an Ask.fm?“.
An diesem Punkt wissen Sie bereits einiges über die Ihnen zuvor unbekannte App. Wenn Sie es genau wissen möchten, nehmen Sie sich die Zeit und lesen Sie die AGB der App. Hier noch einige Fragen, denen Sie dabei nachgehen können:

Wer stellt die App zur Verfügung?
Welche weiteren Produkte bietet die Firma an?
Wie wird die App finanziert?
Wie geht die App mit Daten um?
Worauf hat die App Zugriff?

Hilfreich können dabei auch folgende Broschüren sein:

Apps sicher nutzen – Mobile Geräte in Kinderhand (Bayerische Landeszentrale für Neue Medien)

App_Gepasst (Klicksafe.de)

Mit diesem Wissen sind Sie nun gewappnet, erneut mit Jugendlichen ins Gespräch zu treten. Am besten lassen Sie sich die Anwendung nochmals zeigen, und nun können Sie darauf etwas erwidern. Wenn Sie dabei mit einer Antwort auftrumpfen können auf eine Frage, die sich die Jugendlichen gestellt haben, ist es umso besser. So werden Sie zu einer noch kompetenteren Ansprechperson.
Ein weiterer Schritt wäre, die App selber auszuprobieren. Dagegen spricht eigentlich nur der Zeitaufwand, den es Sie kostet. Am besten finden Sie eine Möglichkeit, wie Sie die App für sich selbst nutzen können. Dies stellt sich jedoch manchmal als Schwierigkeit heraus.  Auf keinen Fall sollten Sie die App zuerst im beruflichen Kontext einsetzen.  Trotz sorgfältiger Vorbereitung können ungeschickte Vorgehensweisen kontraproduktiv und peinlich enden.
Persönlich finde ich es wichtig, ein Gefühl für die Apps zu bekommen. Wer keine Erfahrung mit Chatten mit fremden Personen hat, kann vieles nicht nachempfinden, was für Jugendliche Alltag ist. Bei Selbstversuchen stellte ich erstaunt fest, wie ich auf verschiedenste mir unbekannte Menschen mit klaren Gefühlen reagiert habe: Sympathie, Misstrauen, Freundlichkeit und Angst. Dies widerspricht der so oft betonten Kanalreduktion, die es anscheinend schwierig macht, das Gegenüber einzuschätzen. Wenn wir Jugendliche begleiten wollen in ihrem Umgang mit Medien, müssen wir diese Erfahrungen zumindest anerkennen oder noch besser nachvollziehen können. Denn an diesem Punkt beginnen die Gespräche auf gleicher Ebene.
Ich war erstaunt über die Gefühle, die einzelne Anwendungen in mir auslösten, und über die Vielfalt der Erfahrungen, die ich dabei sammelte. Die meisten Apps haben ausserdem noch einen Vorteil: Sie bieten die Möglichkeit, die Nutzung anderer zu beobachten und dabei auch einiges zu lernen.

Viel Vergnügen dabei!