Wasauchimmer-Sucht
Pornosucht, Handysucht und Selfiesucht. Jede Woche wird uns ein süchtig machendes Phänomen präsentiert, als hätte sich die Welt in ein äusserst aktives Drogenlabor verwandelt. Dabei wir mit so viel Halbwissen um sich geworfen, dass man die Suche nach einer Sucht beinahe als Suchtmittel bezeichnen könnte. Hier ein Exkurs zum Thema Sucht und Abhängigkeit.
Substanzgebundene Süchte sind noch verhältnismässig einfach zu verstehen. Man nimmt eine Substanz. Je nach Substanz verlangt der Körper immer wieder nach dieser, und wenn er nicht mehr ohne kann, ist man davon abhängig. Ganz so einfach ist es aber nicht. Selbst wenn Substanzen im Spiel sind, ist es die menschliche Psyche, die zum Phänomen Sucht einiges beiträgt. Der psychische Teil einer Sucht ist weit schwieriger zu verstehen als die körperliche Ebene.
Dies zeigt sich in der vollen Komplexität bei der Verhaltenssucht. Dabei entwickeln Menschen eine Sucht in Zusammenhang mit einem Verhalten, das für viele andere unproblematisch ist. Hier zählen die Protagonisten Shopping, Handy, Porno, Gamen und seit neuestem auch das Selfie dazu.
Wie passiert es also, dass Menschen nach solchen Sachen „süchtig“ werden?
Jeder Mensch in jedem Alter hat verschiedene Bedürfnisse. Diese reichen von ganz grundlegenden wie Sicherheit, Essen, Schlafen bis zur Selbstverwirklichung und Musse (vgl. Masslof). Des Weiteren hat er Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Je nach Alter sind das „ein Platz in der Gesellschaft finden“ „ sich in der Arbeitswelt zu positionieren“ oder „sich mit dem Alterungsprozess des Körpers abfinden“. Je nach dem wie gut es einem gelingt, diese Aufgaben zu erledigen, ist der Mensch zufrieden oder eben nicht. Wenn in dieser Entwicklung etwas schief läuft, gibt es verschiedene mögliche Folgen. Diese reichen von einer simplen schlechten Laune bis zu schwerwiegenden psychischen Problemen. Die Sucht ist eine mögliche dieser Folgen.
Süchtig zu werden ist ein Prozess. Am Anfang besteht eine Unzufriedenheit oder ein Mangel im psychischen Gleichgewicht.
Da ich in letzter Zeit viel arbeite, habe ich wenig Zeit, mich mit meinen Freunden zu treffen. Das macht mich unzufrieden.
Der Mensch sucht dann nach einer Möglichkeit, diese Unzufriedenheit auszugleichen. Das kann er durch den Konsum von Substanzen oder durch das Ausweichen auf ein bestimmtes Verhalten tun. Ob es sich dabei um Shoppen, Spielen, Sport, Musik, einen Porno zu schauen oder ein Selfie handelt, spielt an und für sich keine Rolle. Wie die Wahl getroffen wird, hängt von den Möglichkeiten und den Vorlieben des Individuums ab.
Dank meinem neuen Smartphone und seinen Sozial-Media-Apps kann ich zwischendurch und von unterwegs mit meinen Freunden Kontakt haben.
Dieser Ausgleich wird in einem nächsten Schritt zur Gewohnheit, intensiviert sich und bekommt einen immer grösseren Wert.
Das ist eine bequeme Art, mit Freunden Kontakt zu haben, und ich spare Zeit. Dies kann dazu führe, dass ich das wöchentliche Treffen in unser Stammbeiz auslasse, denn ich treffe ja via Internet viel mehr Freunde.
Der anfängliche Ausgleich wird so immer mehr zum Zentrum der Aufmerksamkeit und lenkt zunehmend von der anfänglichen Unzufriedenheit ab. Das Verflixte dabei ist, dass die Ablenkung die Unzufriedenheit wachsen lässt. Hier spielt es dann schon eine Rolle, was man sich als Ablenkung gewählt hat. Nicht jedes Verhalten entwickelt sofort negative Folgen oder wird vom Umfeld nicht degoutiert.
Ich habe jetzt fast keine Freunde mehr, der Stammtisch interessiert mich gar nicht mehr. Ich habe jetzt noch dieses Game, da treffe ich auch Leute, und ich muss ja auch noch die Bekanntschaften in der Singelbörse pflegen.
Durch die Fixierung auf diesen Ausgleich entsteht mit der Zeit immer mehr Unzufriedenheit, die ausgeglichen werden muss.
Weil ich immer online bin, habe ich meinen Job verloren. Aus Geldmangel verlasse ich kaum noch das Haus, Essen bestelle ich im Internet, das ist am billigsten.
Das Individuum kann natürlich an jedem Punkt in diesem Prozesse korrigierend eingreifen und die Dynamik verlassen. Je länger damit gewartet wird, um so schwieriger und anstrengender wird es.
Die meisten von uns haben die eine oder andere Gewohnheit, die eine Suchttendenz aufweist. Wir sagen dann gerne von uns „ich bin schokoladensüchtig“ oder „ich bin facebooksüchtig“. Da wir aber über Kompetenzen verfügen, die als Schutzfaktoren wirken (dazu weiter unten mehr), regulieren wir uns selbst und die Trost-Schoggi bleibt einfach „eine blöde Angewohnheit“.
Von einer Sucht spricht man, wenn mehrere der folgenden Faktoren auftreten:
• Person wird nervös oder unruhig, wenn sie dem Verhalten nicht nachgehen kann/darf. Schlafmangel, Erschöpfung und Bewegungsmangel prägen den Alltag.
• Sie verheimlicht der Zeit oder die Häufigkeit, die für das Verhalten aufgewendet wird. Die Person versucht bei Nachfragen, vom Thema abzulenken.
• Sie kann das Verhalten nicht mehr einschränken. Die Person verliert die Kontrolle über ihr Tun.
• Die Person bekommt Schuld- und Schamgefühle, wenn sie versucht „aufzuhören“ und es nicht klappt.
• Die Person vernachlässigt andere Aktivitäten in ihrer Freizeit. Der Freundeskreis konzentriert sich auf Personen, die mit dem Verhalten in Verbindung stehen.
•Die Person hat Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, ihre Leistungen in der Schule/am Arbeitsplatz nehmen stark ab.
•Die Person richtet ihren Zeitplan vor allem oder ausschliesslich nach den Bedingungen oder der Notwendigkeit ihres Verhaltens.
Warum werden einige Leute süchtig und anderen nicht?
Weil jeder Mensch anders ist und andere Grundvoraussetzungen mitbringt und entwickelt. Hier spricht man von Risikofaktoren und von Schutzfaktoren. Risikofaktoren begünstigen eine Suchtentwicklung. Schutzfaktoren machen eine Suchtentwicklung unwahrscheinlicher.
Risikofaktoren sind:
• „Leichte Erhältlichkeit von Substanzen
• Geringer sozialer Zusammenhalt, mangelnde soziale Kontrolle
• Eine ungünstige soziale Ausgangslage (dysfunktionale Familien, Suchtproblematik in der Familie)
• Desorganisierte Schule, unklare Normen
• Fehlen einer tragfähigen Bindung zu den Eltern
• Schulversagen
• Geringe Impulskontrolle, mangelnde soziale, kognitive und emotionale Kompetenzen
• Frühe Auffälligkeiten und Problemverhalten
• Genetische Risikofaktoren
• Missbrauchs- und Gewalterfahrungen“
(Theoretische Grundlagen der Suchtprävention, Sucht Schweiz)
Schutzfaktoren sind:
• „Möglichkeit an Teilhabe und Integration in der Gesellschaft und in der Gemeinde (Bildung, Arbeit, Einkommen)
• Positive Werte und Normen und deren Umsetzung
• Positives Schulklima, kohärente Werte und Normen
• Stabile, gute Bindungen zu den Eltern
• Konsistenter Erziehungsstil
• Kognitive Kompetenzen
• Soziale und emotionale Kompetenz“
(Theoretische Grundlagen der Suchtprävention, Sucht Schweiz)
Fazit:
Also kurz gesagt, ist es nicht die Tätigkeit oder das Verhalten, das süchtig macht, sondern die Person entwickelt eine Sucht im Zusammenspiel mit einem Verhalten oder in einer Tätigkeit.
Aus „das Handy macht immer mehr Menschen süchtig“ wird dann „immer mehr Süchtige leben ihre Handysucht aus“. Dieser kleine Unterschied hat aber weitreichende Folgen.
So führen verschlechterte Rahmenbedingungen für Jugendliche (Jugendarbeitslosigkeit, Verdrängung im öffentlichen Raum, erschwerte Identitätsfindung durch immer mehr Beeinflussung durch kommerzielle Medien) viel eher zur Entwicklung von Suchttendenzen als das Vorhandensein von Handys, Onlin- Games oder der Möglichkeit, Fotos von sich zu machen.
Wenn in unserer Gesellschaft immer mehr solche Süchte auftauchen, ist die wichtige Frage: Was können wir tun, um die Schutzfaktoren jeder einzelnen Person zu fördern?
Die Antworten auf diese Fragen sind jedoch weit unbequemer als jede Woche einen neuen Schuldigen zu finden, der süchtig macht.