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Emma Holten- der Wunsch nach einer Lösung

Seit einigen Tagen kursiert die Geschichte von Emma Holten. Ihr Handeln wird von allen Seiten als starke Antwort auf „Revenge Porn“ gelobt. Angeblich wurde ihr Mailaccount gehackt, und Fotos von ihr wurden ins Internet geladen. Emma erzählt ihre Geschichte in folgendem Video. Die Botschaft ist stark und verdient gehört zu werden. Doch am Ende des Videos werde ich stutzig. Durch das Veröffentlichen von eigenen Nacktfotos habe sie sich vom Objekt zum handelnden Subjekt gemacht und damit die Macht über ihren Körper sowie ihr Bild in der Öffentlichkeit zurückerlangt. Auf einer abstrakten Ebene kann ich diesen Gedanken nachvollziehen. Ich sehe auch, was sie geschafft hat: die Emanzipation von ihren Peinigern. Dennoch bleiben einige Fragen offen.
Hat sie wirklich „die Kontrolle“ wiedererlangt?
Immer wieder wird argumentiert Emma habe durch diese Aktion die Kontrolle über die Bilder, die ohne ihre Einwilligung verbreitet wurden, wiedererlangt. Gerade das hat sie eben nicht. Sie wendet einen alten Kommunikationstrick an: die Ablenkung, indem sie viel Aufmerksamkeit auf einen anderen Punkt lenkt. Doch die alten Bilder sind immer noch da, an denselben Stellen im Internet vorhanden, mit den gleichen verletzenden Kommentaren. An der Kontrolle über diese hat sich nichts geändert. Zu den alten sind jetzt neue Fotos hinzugekommen. Was bewirken diese? Was denkt die Leserin oder der Leser von Blick am Abend, wenn sie oder er die Geschichte liest? Was denkt sich der Kerl an Stammtisch? Liest er die Geschichte überhaupt, oder reichen ihm die Fotos?
Welche Wirkung hat die Aktion auf andere Opfer?
Die präsentierte „Lösung“ funktioniert nur in diesem ganz speziellen Fall und ist keinem Opfer von ähnlichen Übergriffen eine Hilfe. Sie überbringt die Botschaft: „Du musst nur stark sein und darüberstehen!“ Und wenn das nicht geht? Was, wenn Opfer von solchen Übergriffen nicht stark sind? Was wäre, wenn Emma nicht über ein künstlerisch- und marketingbegabtes Umfeld verfügen würde? Wie wäre die Kampagne verlaufen, wenn Emma nicht dem gängigen Schönheitsideal entsprechen würde?
Übernimmt sie bei ihrer Aktion eine Verantwortung gegenüber anderen?
In der Freude über ihre Befreiung vergisst sie die Wirkung ihrer Botschaft für andere Opfer von Übergriffen. Hat sich durch ihre Aktion die Situation der anderen verbessert? Finden diese eine Hilfe im Umgang mit ihrer Geschichte? Sollen sie sich auch nackt fotografieren lassen? Ich denke, für diese ist Emmas Erfolg wohl wenig hilfreich. Auf ihrem Blog ist der Kommentar zu lesen:

“Some women’s liberationists encouraged women to believe that their individual achievements of success, money, and power (especially in spheres historically dominated by men) advance feminist movement. These women need to know their success has little impact on the social status of women collectively and does not lessen the severity of sexist oppression or eliminate male domination. Their individualism is dangerously narcissistic when it leads them to equate personal success with radical political movement. Individual achievements advance feminist movement if they serve the interests of collective feminist struggle as well as satisfying individual aspirations.”
Bell Hooks, Feminist Theory: From Margin to Center

Fazit
Meiner Meinung nach stilisiert hier die Netzgemeinde (unabhängig von Emmas Absichten) eine Lösung für ein Problem, das jedoch (noch) nicht gelöst ist. Ich sehe darin den Wunsch, für mediale Übergriffe eine einfache Lösung zu präsentieren, die erst noch schön anzuschauen ist.
Ich freue mich, wenn es Emma jetzt besser geht. Wir sollten jedoch vorsichtig sein, wie wir die Geschichte interpretieren. Ich werde den Eindruck nicht los, dass die Netzöffentlichkeit sich hier eine einfache Lösung konstruiert für das Ohnmachtsgefühl darüber, dass das Internet nichts vergisst.
Der Kontrollverlust in einer solchen Missbrauchssituation ist eine Realität, die nicht einfach zu akzeptieren ist. Diese Realität ändert sich nicht, indem wir Heldengeschichten kreieren. Für mich ist Emma eine Heldin, weil sie ihre Geschichte erzählt und sich zu ihr bekennt. Die Nacktfotos braucht es dazu aber nicht.

Sexting Dramatisierung vs. Sensibilisierung

Aktuell findet online eine kleine Diskussion um die Aktualität über und die Dringlichkeit von Sexting statt.

Solche Diskussionen sind sehr wichtig. Nur, wenn über Themen diskutiert wird, kann auch dazu sensibilisiert werden. Gibt es Sexting? Was ist daran schlimm? Und braucht es Aufklärung?

Jugendorganisationen wie Pro Juventute und ihre Partner setzen sich seit langem für die Förderung der Medienkompetenz ein, informieren über mögliche negative Folgen von Sexting und zeigen Opfern vom Missbrauch von Sexting und Cyber-Mobbing, wo sie Hilfe finden. Vor einigen Tagen antwortete der Blogger Philippe Wampfler dem Newsportal Watson auf Fragen zum Thema Sexting.  Es ist erfreulich zu lesen, dass er mehrheitlich jene Empfehlungen bezüglich des Umgangs mit Sexting weitergibt, die Pro Juventute seit längerem empfiehlt. Er hat gleichzeitig auch seine Meinung kundgetan bezüglich der Aufklärungsarbeit von Pro Juventute und der Berichterstattung darüber. Das Newsportal hebt eine einzelne Aussage als Titel hervor “Das Thema Sexting wird ausgeschlachtet und dramatisiert”. Diese Aussage löste Diskussionen aus. Philippe Wampfler fasste im folgendem Blogbeitrag nach und präzisierte seine Aussagen.

Diesen Faden nehme ich gerne auf. Da sich meine Fachmeinung mit den erarbeiteten Inhalten in der Aufklärungsarbeit von Pro Juventute deckt, erlaube ich mir, in Ich-Form zu schreiben.

1 Sexting ist ein relativ neues Wort, und die Definitionen dazu sind nicht starr. Folglich müssen wir immer wieder auch klären, was wir mit dem Wort meinen. Ich verstehe darunter das Verschicken von selbst gemachten, intimen Fotos an eine bestimmte  Person. Es gibt aber verschiedene Definitionen (z.B. hier). In seinem Blogbeitrag nennt PW dies eine „mediatisierte Form von sexueller Aktivität“. In meinen Worten ist dies „eine neue Spielform der Liebe“.

Werden Fotos ohne Einverständnis gemacht, an andere weitergeschickt oder veröffentlicht, ist dies ein Missbrauch dieser Bilder und stellt darum einen Übergriff dar. Darum spreche ich diesbezüglich auch von Missbrauch von Sexting.

Wir sind uns einig, diesem Missbrauch begegnen zu müssen und den Betroffenen Hilfe zu bieten. Darum ist es auch so wichtig, darüber zu sprechen. Jugendliche, Eltern, Lehrpersonen und im Grösseren gesehen auch unsere Gesellschaft; wir alle müssen darüber sprechen und Wege finden, mit diesen und anderen Entwicklungen umzugehen.

Damit wären wir auch bei der Analogie zum Strassenverkehr. Dabei geht es nicht nur um regulative (Strassenverkehrsgesetze – Medienschutzgesetze) und repressive (Verkehrspolizei –Cyberpolizei) Massnahmen, sondern vor allem darum, die Erziehung und Begleitung von Kindern und Jugendlichen zu fördern – mit welchen Entwicklungen auch immer wir uns aktuell auseinandersetzen. Diese sind weder per se negativ (so ist Sexting, wie in den Merkblättern der Pro Juventute ausgeführt, nichts Schlechtes – nur der Missbrauch davon) noch per se positiv. Jugendlichen müssen Aufklärung erhalten, wie damit umzugehen ist und welche Risiken es gibt, damit sie eigenverantwortlich heranwachsen können. Im Strassenverkehr sind Gefahren bekannt und bleiben bis auf ein paar aufkommende Veränderungen (bspw. durch das Aufkommen von Elektrovelos) weitgehend gleich. Es ist ganz normal, dass der Verkehrspolizist in die Schule kommt und dass Eltern ihre Kinder aufklären über die Gefahren im Strassenverkehr. In der Medienerziehung sind wir aber noch nicht soweit. Einerseits weil die „Neuen Medien“ noch wenig erforscht sind, andererseits weil sie sich so schnell weiterentwickeln, dass es sogar Fachleuten z. T. schwer fällt, die Veränderungen nachzuvollziehen. Um so erfreulicher finde ich Entwicklungen wie den Entscheid des Europäischen Gerichtshofs, Suchmaschienenbetreiber beim Datenschutz in die Pflicht zu nehmen. Wir sind da als Gesellschaft gefordert, einen guten Umgang zu entwickeln.

Die Idee, dass Aufklärung und Prävention Risiken dramatisieren oder Kinder dazu bringen, etwas auszuprobieren, ist so alt wie falsch. Die gleichen Bedenken gab es beispielsweise bei der Aufklärung zum Schutz vor Geschlechtskrankheiten: Unterstellt man damit nicht allen Jugendlichen, dass sie verantwortungslos ungeschützten Sex haben? Und bringt man sie so nicht erst auf die Idee, überhaupt ungeschützten Sex zu haben? Heute würde das wohl kaum einer mehr behaupten. An der gleichen Stelle stehen wir heute – und diese Diskussion wollen und müssen wir führen. Ich finde die Denkweisen, wie sie in diesen Blogbeiträgen zur Diskussion gestellt wurden, daher sehr wichtig.

Die Pro Juventute bringt durch ihre Aufklärungskampagne Themen ins Gespräch, die Kinder, Jugendliche, Eltern und Schulen beschäftigen. Dabei kommt immer mal wieder der Vorwurf der „Dramatisierung“ auf. Dabei ist es ein Paradox, dass das Warnen vor Gefahren immer auch die Wahrnehmung der Betroffenen beeinflusst. PW schreibt: „Werden Jugendliche als ohnmächtig, statt als handlungsfähig dargestellt, verändert das den Umgang mit ihnen und ihre soziale Roll.“ Das ist ein sehr wichtiger Punkt von ihm. Daher setze ich stets auf die Eigenverantwortung der Jugendlichen und nicht auf Verbote. Ich finde es gut, wenn sich die Pro Juventute politisch dafür einsetzt. Dabei bin ich froh um alle, die sich in diesem Sinne engagieren. Daher gilt hier ein spezieller Dank an das unermüdliche Engagement von PW, die guten Seiten von Social Media und deren kompetente Anwender immer wieder zu betonen.

Das heisst aber nicht, dass gleichzeitig keine Aufklärung betrieben werden soll. Es darf nicht sein, dass die „Handlungsfähigen“ ihre Unterstützung im sozialen Umfeld erhalten und es die Ohnmächtigen, die Hilfsbedürftigen sind, die leiden. Für diese müssen die Themen auf den Tisch.

Würden wir diese Diskussionen über die Wichtigkeit des Themas und die Definition der Begrifflichkeiten führen? Würden Lehrpersonen auf Hilfmittel und Medienberichte zurückgreifen können, um das Thema in der Schule einzubringen, wenn es die Kampagne nicht gegeben hätte?

Ich sehe eine Kampagne als ein Wechselspiel zwischen dem Inhalt und der Form der Kampagne und der Medien und anderen Rezipienten der Inhalte. Einiges ist vorauszusehen, anderes nicht. Bei der Sexting-Kampagne konnte ich feststellen, dass wir in ein brausendes Wespennest gestossen haben. Darum finde ich solche Diskussionen auch notwendig und sinnvoll. Ein wichtiger Tipp, der auch Teil der Kampagne ist, lautet: Bleiben Sie ruhig und hören Sie zu, ohne zu verurteilen.