Digitale Kultur und Identität

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Digitale Kultur und Identität

Wie versprochen, gehe ich in diesem Artikel vertieft auf das Thema Identitätsbildung im Zusammenhang mit der Entwicklung einer digitalen Kultur ein. Das hier Wiedergegebene entspri ...

Wie versprochen, gehe ich in diesem Artikel vertieft auf das Thema Identitätsbildung im Zusammenhang mit der Entwicklung einer digitalen Kultur ein. Das hier Wiedergegebene entspricht dem Vortrag von Serge Tisseron, den er am Symposium in Lausanne gehalten hat. Dieser Artikel schliesst also an meinen letzten Artikel an. Die Frische seiner Denkweise motivierte mich, seine Aussagen hier zusammenzufassen, gerade weil sie ein Gegensatz zu den üblichen Veröffentlichungen zum Thema darstellen.

Laut Tisseron haben sich die Grundvoraussetzungen für die Entwicklung von Identität in den letzten Jahren verändert. Unter anderem zeigt sich das auch im Begriff des „Privaten“. Im Gegensatz zu früher ist heute nichts mehr wirklich privat und nichts mehr wirklich öffentlich. Dies spielt darum eine Rolle, weil in der Bildung einer Identität neben dem „Sich-selbst-Erkennen“ immer auch der Wunsch, erkannt zu werden, mitspielt.

Zur Zeit unserer Grosseltern hatten die Menschen nur die Möglichkeit, sich im Spiegel selbst zu sehen. Diese Spiegel hingen an einem festen Platz, daher sahen sie sich immer aus derselben Perspektive, am gleichen Ort und in ähnlichen Lichtverhältnissen. So zeigten diese Spiegel nicht nur ein sehr einseitiges, sondern auch falsches Bild von ihnen. Das Spiegelbild war immer ein Spiegelverkehrtes Ich. Die Menschen hatten damals also ein Bild von ihrem Aussehen, das nicht der Realität entsprach.

Heute ist die Situation anders. Neben dem Bild im Spiegel sehen sich die Menschen von klein auf auch auf Fotos oder in Filmen. In diesen Filmen sehen sie sich, wie andere sie sehen, also nicht spiegelverkehrt. So entstehen von Anfang an verschiedene Ich-Bilder, die miteinander in Verbindung gebracht werden müssen. Werden sie grösser, kommen noch weitere Ich-Bilder dazu. In Computerspielen nutzen sie die Möglichkeit, Avatare von sich zu schaffen, und erhalten so weitere Bilder von sich, die ihre Identitätsentwicklung beeinflussen.

Die Digitalisierung macht Formen des Ichs möglich, die es früher nicht gab. Durch diese Umstände ist die Identität weniger fest als noch vor einigen Jahren. Tisseron benutzt das Wort „flüssig“ (liquid), das ich sehr passend finde. Diese Entwicklung hat aber nicht erst mit der Entwicklung der digitalen Medien begonnen. Diese Vervielfältigung möglicher Selbstbilder hat schon viel früher eingesetzt. Noch vor einigen Jahrzehnten verfügte eine Person über zwei verschiedene Kleidungsvarianten: die Arbeits- und die Sonntagskleider. Damals gab es nur diese beiden Erscheinungsbilder. Über Jahre entwickelten sich immer mehr Möglichkeiten, sich darzustellen und sich mit verschiedenen Rollen zu identifizieren.

Weiter geht Tisseron darauf ein, dass die Bildung von Identität immer mit der Erlangung von Anerkennung zusammenhängt. Dies zeigt sich gut im Prozess des Erwachsenwerdens. Früher war ein eher starrer Weg gezeichnet, der durch die Erfüllung eines klar vorgegebenen Lebenswegs auch die dazugehörende Anerkennung garantierte. Die Erlangung eines Berufs oder die Gründung einer Familie bedeutete die Zusicherung der entsprechenden Anerkennung. Diese Einfachheit existiert heute nicht mehr. Auch hier bringt Tisseron den Begriff „liquid“ ins Spiel. Die Jugend sei heute mehr gefordert, flexibel zu sein und den Lebensweg in ständiger Bewegung (Liquidität) zu gehen. Zu diesem Thema verweist Tisseron auf Jocelyn Lachance, der diesen Prozess genauer beschreibt. Ich werde dies in einem separaten Blogbeitrag noch ausführen.

Mit diesen Veränderungen wandeln sich auch die Ansprüche an die Heranwachsenden. Waren früher diejenigen im Vorteil, die zielstrebig einem Weg folgen konnten, so sind es heute und in Zukunft diejenigen, die flexibel auf Veränderungen reagieren können und mehrere Möglichkeiten gleichzeitig verfolgen können.

Tisseron sagt:

„Die Träumer von gestern, sind die Angepassten von morgen.“

Diese vielfältigen Möglichkeiten, die die digitale Kultur mit sich bringt, benötigen eine höhere Flexibilität, sich an die Zukunft anzupassen. Dies steht nicht nur im Zusammenhang mit der Entwicklung von digitalen Technologien. Diese Entwicklungen sind viel mehr ein Zeichen unserer Zeit. In einem Nebensatz weist Tisseron darauf hin, dass wir uns beispielsweisse auch an einige klimatische Veränderungen gewöhnen werden müssen. So ist auch der oben genannte liquide Typ wichtiger, um sich in einer schnell wandelnden Gesellschaft zurechtzufinden.

Dieser Hinweis beeindruckte mich, weil er die Grundhaltung von Tisseron widerspiegelt, nämlich dass wir gut daran täten, unseren Geist flexibel und offen für Neues zu halten, um so die Chancen unserer Zukunft zu sehen und nicht an ihr zu verzweifeln.

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